ist ein kleines feines Designbüro
in Berlin und arbeitet
in allen Bereichen der
visuellen Kommunikation.
Aufmerksamkeit
Kürzlich verbrachte ich ein paar Tage in einer Berliner Klinik. Obwohl Ärzte und Pflegepersonal kompetent und freundlich waren und das Problem nicht lebensbedrohlich, gestaltete sich der Aufenthalt als eine harte Prüfung für eine Berufs-Ästhetin. weiter
Kürzlich verbrachte ich ein paar Tage in einer Berliner Klinik. Obwohl Ärzte und Pflegepersonal kompetent und freundlich waren und das Problem nicht lebensbedrohlich, gestaltete sich der Aufenthalt als eine harte Prüfung für eine Berufs-Ästhetin.
Alles im Krankenzimmer war beigegelb: vom Fernseher über den Spind bis hin zum ausgeblichenen Kalenderblatt an der Wand. Die StrukturTapete schmuddelig, der Fußboden grau, die Fußleisten abgestoßen, die Beleuchtung grell; das Bett stand mit den Rücken zum Fenster, Blick zur Wand. Der Fernseher hoch oben an der Decke, links vom Bett, verursachte nach kurzem Schauen Unbehagen und Genickstarre. Die Fernbedienung für Licht, TV und Hilferuf am Kopfende des Bettes war nur mit größter Verrenkung erreichbar; dazu eine hundertfach kopierte, nahezu unleserliche Gebrauchsanweisung in zerknitterten Plastikhüllen ...
Nun kann man sagen, so ist halt das deutsche Gesundheitswesen, etwas auf den Hund gekommen eben ..., aber es handelte sich um eine Privatklinik in der Charité, die nicht mit dem einfachen Kassensatz abrechnet, sondern entsprechende Zuschläge kassiert.
Hier geht es also nicht vorrangig um Geld, sondern vor allem um Aufmerksamkeit. Noch zwanzig Jahre nach der Wende ist hier das menschenverachtende Regime, das dem Individuum keine Bedeutung beimaß, in Ausstattung und Innenarchitektur zu spüren. Vermutlich ist das meiste weitgehend so geblieben, wie es war. All die Jahre hat es niemand für wirklich nötig gehalten, diesen Räumen Aufmerksamkeit zu widmen und sich in die Menschen, die darin genesen sollen, hineinzuversetzen.
Beobachten, die Dinge von unterschiedlichen Blickwinkeln aus zu betrachten, ist eine grundlegende Tätigkeit von Gestaltern. Ein Projekt der Berliner Gestalter-Gruppe Anschlaege.de hat durch genaues Hinsehen die Menschen eines Grenzortes, die seit der Teilung durch den Krieg nichts mehr miteinander zu tun hatten, wieder zusammengebracht. Die Designer stellten diesseits der Grenze lebensgroße Fotos der Menschen der polnischen Seite auf, mit alltäglichen Kommentaren dazu, und auf der anderen Seite die der deutschen Bewohner, sodass die getrennten Städter sich gegenseitig wahrnehmen (im Wortsinn) konnten. Heute gibt es in der geteilten Stadt wieder gemeinsame Aktivitäten, Austausch und Beziehungen.
Designer müssen einen Standpunkt einnehmen, Stellungnahmen herausfordern und Anliegen Gehör verschaffen. Sie können den Alltag besser lebbar machen, indem sie Dinge entwerfen, die den Menschen unterstützen. Dazu ist Aufmerksamkeit die wichtigste Voraussetzung. Sie ist ein Mittel gegen Vorurteile, Gewissheiten, gegen sich selbst erfüllende Prophezeiungen und Selbstbespiegelung.
Aufmerksamkeit klingt auch ein wenig nach Finanzamt (kleine Aufmerksamkeiten steuerwirksam geltend machen) oder nach Schule (ein sehr unaufmerksames Kind!), eine Einrichtung, bei der die Konzentration und somit die gesamte Aufmerksamkeit auf eine Person (bestenfalls den Lehrer) oder eine Arbeit gelenkt ist oder wird. Richte ich meine Aufmerksamkeit bewusst aktiv auf eine Sache, oder wird sie von jemand geleitet oder abgezweigt?
Gestaltungs- und Konzeptarbeit bedeutet das Bewusstsein für etwas zu schärfen und Aufmerksamkeit zu lenken. Egal in welcher Disziplin, Aufmerksamkeit wird mehr und mehr tausendfach geteilt, sie richtet sich gleichzeitig auf viele Dinge, die unterschiedlich stark an unseren Gedanken zerren, die Konzentration fragmentieren und das Nachdenken oft schwer machen. Gleichzeitig an verschiedenen Jobs zu arbeiten ist normal ..., mittlerweile nimmt aber auch das Kommunizieren (darüber) oft einen großen Teil unserer Zeit ein.
Die gezielte Arbeit an Designaufgaben, die ungeteilte Konzentration erfordert, wird durch mannigfaltige Aufmerksamkeits-Abholer ständig gestört. Das Kommunizieren selbst, das Reden, Telefonieren, Mailen, Twittern, Netzwerken ist mit der vagen Vermutung verknüpft, einiges geleistet zu haben. Ungeteilte Aufmerksamkeit wird zu einem hohen Gut. Es ist einfach, erst einmal die Vielen zufriedenzustellen, die (sog.) Freundesgruppen, die Netzwerke, die Community. Immerhin hat man zumindest kurzfristig das Gefühl, schon was getan zu haben, wenn man die schnelle Kommunikation vor das langsame Nachdenken stellt.
Die Kehrseite des schnellen Hier-und-da wird derzeit unter Designern kontrovers diskutiert: Auftraggeber verlangen die Zustellung von halbfertigen Skizzen, Ideen und Entwürfen in verschiedenen Varianten in Minutenschnelle per Netz, wollen alles gern »mal sehen«, sie verzichten auf eine klare Aufgabenstellung, ein persönliches Gespräch, eine fokussierte Designleistung, und oft auch auf ein angemessenes Honorar. Das endlose Produzieren von Nullnachrichten, Statusmeldungen und Beliebigkeiten machen Begriffe wie Relevanz und Inhalt zu Zauberworten gegen die Untiefen des Ungewissen und Allgegenwärtigen. Und Rückblicke auf vergangene Jahrzehnte (Sechziger, Siebziger) sollen als Stilvorlagen helfen, das Dilemma zu bewältigen. Damit wird das Problem nicht gelöst ..., Tage in Abgeschiedenheit (nicht unbedingt in beigegelben Zellen mit Strukturtapete) sind für Aufmerksamkeitsjunkies die Hölle, für Designer sind sie lebensnotwendig.
Design für Denker
Denken ist bisweilen mühsam. Zermürbend. Jeder weiß, wie quälend es ist, wenn sich die Gedanken im Kreise drehen, wenn sich ein Problem im Kopf einnistet und es sich dort gemütlich macht. weiter
Denken ist bisweilen mühsam. Zermürbend. Jeder weiß, wie quälend es ist, wenn sich die Gedanken im Kreise drehen, wenn sich ein Problem im Kopf einnistet und es sich dort gemütlich macht. Dann hilft oft ein Gespräch mit jemand, der einen frischen Blick auf die Dinge wirft und das Denken in eine andere Richtung lenkt. Designer können solche Wegweiser sein, sie sind Alltagsbeobachter und Fragensteller.
Große Denker entwickeln komplexe Gedankengebäude, ihre Entwürfe bewegen sich in unsichtbaren Räumen, die nicht einfach greif bar sind. Sie flößen den Menschen Ehrfurcht ein und manchmal auch ein bisschen Angst.
Designer dagegen gestalten Dinge des täglichen Gebrauchs, sinnliche Reize, räumliche Erfahrungen, sicht- und hörbare Kommunikation durch Sprache, Prozesse oder Dinge. Sie sollten nah am Menschen sein. Seit die Industrialisierung uns massenhaft Gebrauchsgegenstände in die Hände gegeben hat, sind die Menschen von Designarbeit umgeben. Gestaltung bestimmt Form und Inhalt der Dinge, beeinflusst Markt und Verhalten. Die Kultur einer Gesellschaft wird von den ästhetischen Erfahrungen der Menschen geprägt, von Geschichte, Sprache, Architektur und Design.
Visuelle Erlebnisse, die uns im Alltag auf Schritt und Tritt begleiten, ergeben ein inneres Bild der Welt; eine Sammlung von Zeichen, die sich mit jedem frischen Eindruck, mit jedem neuen Gedanken zu anderen Gebilden zusammenfügen können, wenn wir das zulassen. Designer stellen einen großen der Teil der Bilder zur Verfügung, die unsere Wirklichkeit ausmachen und werden selbst von diesen Eindrücken gefüttert.
Denken macht Spaß. Ist lustvoll. Erotisch. Wie ein Abenteuer. Wie aufregend, wenn sich im Kopf Verbindungen auftun, die den Blick weiten. »Das radikale Einbeziehen von Subjektivität in das Nachdenken ...«, von eigenen Erfahrungen und Erlebnissen bringt für die Gestaltungsarbeit neue Impulse und Empathie.
Wie großartig ist das Gefühl, etwas erkannt und gelernt zu haben, diese Erkenntnisse im Kopf mit vorhandenen Ressourcen zu verbinden und so etwas neu zu denken. Der Satz von Oscar Negt aus »Geschichte und Eigensinn«: Erkenntnis ist ein Lebensmittel bezeichnet diesen Vorgang als überlebensnotwendig.
Erkenntnis wofür oder für wen? Ist es nicht ein bisschen armselig, wenn Wissen und kreative Fähigkeiten ausschließlich dazu eingesetzt werden, Badewannen zu verkaufen und Pulloverunternehmen zu einer Marke am Markt zu machen? Wenn man bedenkt, wie viele junge Gestalter und Gestalterinnen, gute Organisatoren und clevere Köpfe Tag für Tag ihre Energie dafür einsetzen, perfekte Kampagnen und Präsentationen für große Marken hinzulegen, zehn, zwölf Stunden am Tag und sieben Tage die Woche, Jahr für Jahr, ist der Gedanke verlockend, was eigentlich wäre, wenn wichtige Anliegen wie z.B. bessere Ausbildung, die Arbeit gegen Neonazis oder der Umgang mit alten Menschen ein solches Potential an Intelligenz und Arbeitszeit zur Verfügung hätten.
Welch ein Glück, einen Beruf zu haben, der das wilde Denken fördert und fordert, der das Lernen, das Beobachten, das Sich-Auseinandersetzen mit immer neuen Themen und das Suchen nach menschlichen Lösungen zum Inhalt haben kann. Designer und Designerinnen können Verbindungen herstellen zwischen den verschiedenen Inseln, auf denen Menschen leben; dazu beitragen, dass neue, andere, fremde Sichtweisen nicht mehr fremd, dass Verständigungsprozesse einfach und dass Gegenstände wirklich hilfreich, und nicht nur Statussymbole oder Wegwerfprodukte sind. Jeder weiß, dass Design Dinge mit Bedeutung aufladen kann, wir wissen, dass bestimmte oder besser falsche Codes Inhalte denunzieren können, wir wissen, dass Design auch politisch ist. Wir wissen, dass Ethik in unserer Arbeit eine große Rolle spielt. »Filme und Texte können Menschen schwächen und stärken, sie können ein mehr an Selbstbewusstsein produzieren, oder aber es mindern.« Das gilt im weitesten Sinne für jede Gestaltungsarbeit, mediale Botschaften, Kommunikation ..., Dinge und Prozesse, die von Designern beeinflusst werden.
So könnten Designer Handlungsmöglichkeiten jenseits von Konsum aufzeigen ..., könnten selbst die aktuellen Dimensionen von Präsentation und Repräsentation in Frage stellen. Dass auch Konsumenten bzw. die Nutzer unserer Arbeit ihr Potential einsetzen, um Dinge zu verändern, zeigen in der letzten Zeit Blogs oder Internet-Gemeinschaften, die erreichen, Menschen so zu vernetzen, dass Unternehmen ihr Verhalten ändern müssen oder sich z.B. kurzfristig clevere Initiativen realisieren lassen. Welchen Einfluss die Medien und Werkzeuge auf unsere Verhaltensweisen haben, muss hier vielleicht nicht noch mal erklärt werden.
Die subjektive Wahrnehmung von Gestaltern und Gestalterinnen in Bezug auf den Stellenwert ihrer Arbeit, auf die positiven Auswirkungen einer klaren Haltung im Sinne einer besseren Welt, verdient es, gestärkt zu werden. Nicht zuletzt auch durch eine entsprechende Ausbildung. Professoren an Designschulen, die Projekte anbieten oder fördern, die sich in einer radikalen Auseinandersetzung mit den Erfordernissen einer menschlichen Gesellschaft beschäftigen, sind Multiplikatoren. Und arrivierte Gestalter können durch ihre Arbeit und ihr Engagement für einen bewussten Umgang mit den Themen, die sie bearbeiten, für junge Gestalter als Vorbilder gelten.
Bereits vor mehr als vierzig Jahren gab es das Manifesto von Ken Garland und eine Neuauflage davon in 2000. Auf der internationalen Aspen Design Conference in 1996 wurde formuliert, dass Designer neue Arbeitsweisen finden müssen in flexiblen Zusammenhängen. Und vor mehr als 25 Jahren wurde das Forum Typografie gegründet, um den Stellenwert der Typografie in der Öffentlichkeit zu stärken und verantwortungsbewusstes Arbeiten zu unterstützen. Wo sind die Kräfte, die sich heute für gute Arbeit im diesem Sinne stark machen? Es gibt Gruppen, wie den adc, der seine Kraft und Signalwirkung in der Regel für sich selbst einsetzt. Die Berufsverbände locken die Gestalter nicht, das alles scheint den Alltag von Kommunikationsgestaltern nicht abzubilden.
Man hat den Eindruck, dass, obwohl visuelle Gestaltung überall präsent ist und den Alltag mitbestimmt, Kommunikationsdesign eine neue Lobby braucht – eine andere vielleicht oder ein neues Einstehen für diese Arbeit. Die Aufgabengebiete ändern sich rasant, Designer sind mittlerweile weit davon entfernt, nur visuelle Gestaltung zu realisieren, sie begleiten Prozesse, beeinflussen und befördern diese durch ihre Arbeit.
Und wenn es in den großen oder den angesagten Agenturen nicht cool ist, an sozialen Problemstellungen zu arbeiten, müssen die Kreativen dafür sorgen, dass es das wird. Um Gestaltungsarbeit mit Intelligenz, mit Reflexion aufzuladen, sind wir gezwungen, uns von den Themen besetzen zu lassen und besessen zu sein. Und wir müssen entscheiden, für was wir brennen wollen.
Zitat 1: Wolfgang Lenk, Freitag, 30.7.99, zum 60. Geb. von Oscar Negt Zitat 2: Oskar Negt, Alexander Kluge »Geschichte und Eigensinn«, FfM, 1981
Grenzüberschreitungen
Mit grenzenloser Freiheit ist bekanntlich nicht nur beim Gestalten schwer umzugehen; viel schwerer als mit gesetzten Vorgaben oder Reglementierungen, die man vielleicht nicht mag, aber die einen überschaubaren Rahmen abstecken und so das Leben leichter machen. weiter
Mit grenzenloser Freiheit ist bekanntlich nicht nur beim Gestalten schwer umzugehen; viel schwerer als mit gesetzten Vorgaben oder Reglementierungen, die man vielleicht nicht mag, aber die einen überschaubaren Rahmen abstecken und so das Leben leichter machen. Wer Kinder hat, weiß, dass der mittlerweile etwas altmodische Laufstall manchmal »grenzenlose Freiheit« bedeuten kann. Die Grenze des Einen ist die Freiheit des Anderen.
Grenzen begegnen uns täglich – in Form von Tabus, Gesetzen, Absperrungen, Ländergrenzen, Trenn- und Demarkationslinien sowie Zensur; sie regeln unseren Alltag und haben eine wichtige soziale Funktion. Daher gehören auch Grenzüberschreitungen dazu; sie sind als Regelbruch, zum Beispiel als Verkehrssünde, Seitensprung oder Straftat, Teil jeder Gesellschaft.
Allgemein anerkannte gesellschaftliche Grenzen werden in der Kunst überschritten, in religiösen Zusammenhängen oder in Ausnahmezuständen, wie bei Naturkatastrophen oder im Krieg. Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, sagt man. Sicher nicht alles. Zwei aktuelle Werbekampagnen zeigen annähernd die gleichen Bilder von verletzten Frauen: die einen werben für Herrenrasierer und die anderen stehen für eine Anti-Gewalt-Kampagne.
Die natürlichen Grenzen, die uns besonders betreffen, sind vor allem die des Körpers. Der Körper ist für uns das Maß aller Dinge. Wir können den Körper trotz aller Versuche nicht beherrschen. Er ist eine Art »Wetware«, die auch nicht mit genügend Support nach unseren Vorstellungen unbegrenzt aufgerüstet werden kann. Der Körper ist verletzlich und seine Oberfläche, die Haut, ist eine Art Grenze, ein Übergang von innen nach außen, vom Ich zum Du, ein Interface zur Gesellschaft.
Wir erfahren Grenzen am härtesten, wenn es ans »Eingemachte« geht, an die Existenz, wenn wir großen Schmerz fühlen, wenn wir mit Gewalt, Sex, Geburt und Tod zu tun haben. Die Schmerz-Ausstellung in Berlin im vorletzten Sommer zog bereits bei der Ausstellungseröffnung Massen von Besuchern an. Schmerz ist ein Thema, das, gerade weil es so existenziell ist, viele interessiert. Auch die Werbung bezieht mehr und mehr Bilder von Grenzerfahrungen in Bezug auf Schmerz und Tod in ihre Artworks ein, um die Menschen zu berühren.
Ein bisschen Schocken ist wichtig
Der amerikanische Designer Tibor Kalman, der jahrelang zusammen mit dem Fotografen Oliviero Toscani die Looks für die Zeitschrift »Colors« für Bennetton gestaltete, brach in diesem Magazin alle Tabus. Von ihm stammt der Satz: »Ein bisschen Schocken ist wichtig, damit jemand anfängt zu denken.« Unsere westliche, globalisierte Welt hat von allem zu viel – zu viele Informationen, zu viele Bilder, zu viele so genannte Messages in endloser Menge, Variation und Wiederholung. In »Colors« versuchte Tibor Kalman, den Horizont der Leser zu öffnen, indem er Bilder aus verschiedenen Welten zusammensetzte. So wird die englische Queen schwarz und Malcolm X weiß. Mittlerweile kann ohne Mühe alles mit allem vermengt werden. Tradierte Grenzen lösen sich auf. Es wird »gesampelt« und »gemergt«. Visuelle Sprachen vermischen sich, Bilder können jederzeit aus dem Netz geholt und beliebig verändert werden.
In Italien waren im Sommer 2007 Aufsehen erregende Großflächen von »Nolita« zu sehen, eine Kampagne gegen Magersucht, die direkt mit dem Katalog der Modefirma in Verbindung stand. Das Model war Isabel Karo, eine 28-jährige Französin, 32 Kilo schwer und seit 15 Jahren magersüchtig. Schockierend an dieser Kampagne war nicht nur das ungeschminkte Gesicht der Magersucht, sondern vor allem die Verbindung mit dem Katalog eines Modelabels für hippe, schlanke junge Mädchen.
Die gleichen Bilder belegen schon seit langem Katastrophenmeldungen in den Abendnachrichten, Protestkundgebungen, Spendenwerbung und Werbekampagnen für Pullover und Lifestyle-Produkte. Werbung lügt – das ist das, was wir schon immer gewusst haben. Werbung lügt, Nachrichten sind wahr. Das stimmt so schon lange nicht mehr und hat vielleicht auch noch nie gestimmt. Wir haben es immer so ein bisschen geglaubt. Wenn man weiß, dass Nachrichten frisiert werden, verwundert es nicht, dass die Werbung auch die Wahrheit sagen kann. Entscheiden müssen wir selbst, was akzeptabel ist und was nicht.
Mit vielen Ereignissen können wir umgehen, weil sie für uns bereits medial auf bereitet sind. Wir empfinden die tägliche Bilderflut als normal und selbstverständlich, und wenn wir einverstanden sind, glauben wir an die Bilder, die wir vorgesetzt bekommen. Wenn wir nicht einverstanden sind, glauben wir, sie sind gestellt oder aus dem Zusammenhang gerissen, so schreibt Susan Sonntag sinngemäß in »Das Leiden anderer betrachten«.
Krieg um Grenzen
Vor allem bei der Kriegsberichterstattung werden täglich die Grenzen zwischen seriöser und unseriöser Berichterstattung überschritten, weil die Bilder, die wir sehen, niemals die Wahrheit abbilden können, sondern immer nur das, was wir als Realität akzeptieren oder was jemand anders für uns als Wahrheit oder wahrhaftig definiert. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Waffenlüge als Grundlage für den Irakkrieg. Alle kennen wir Bilder, in denen die rechte Seite des Bildes etwas anderes sagt als die linke, und jede Partei reklamiert das Abbild für sich als ihre Wahrheit. Im Krieg oder in religiösen Konflikten geht es in der Regel auf irgendeine Weise um Begrenzung, um Landesgrenzen oder Schranken in den Köpfen. Um solche Grenzen zu manifestieren, werden überall auf der Welt seit je her Mauern gebaut und Stacheldraht gezogen. Das kostet. Im so genannten großen Krieg, dem Ersten Weltkrieg, kosteten acht Kilometer Frontverschiebung 1,3 Millionen Menschen in vier Monaten; in der ersten halben Stunde der Offensive fielen 80.000 Menschen.
Der Kampf um Ländergrenzen findet immer irgendwo auf der Welt statt und gehört zum Alltag der Menschen. Das Thema Grenzen war und ist zu allen Zeiten aktuell. Es gibt unzählige Organisationen, die sich ohne großen Erfolg für eine Welt ohne Grenzen einsetzen. Damit es ein Drinnen gibt, muss es ein Draußen geben.
Eine Ausstellung von Frontières Catalan in Barcelona beschäftigt sich mit Grenzen und Grenzschutz, mit dem, was wir auf dieser Welt mit dem Drinnen und Draußen anstellen und wie sich Gesellschaften vor zu großer Zuwanderung schützen. So gibt es zum Beispiel die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, Frontex. Sie wird mit einem relativ großen Budget von in diesem Jahr 22,2 Millionen Euro von den Schengen-Staaten gemeinsam finanziert. Die Frontex schützt die europäischen Außengrenzen. Und sie hat kleine Einheiten, die Rapid Border Intervention Teams, kurz RaBITs, die schnell buchbar sind, wenn es irgendwo an einer Grenze brennt. Menschen, die es geschafft haben, eine Grenze zu überwinden, und dann illegal leben, nehmen vieles auf sich, um von ihren unfreiwilligen Gastgebern nicht aufgespürt zu werden.
Der verwertbare Skandal
In Killerspielen wirkt die Jagd auf Menschen wie ein Spiel. Krieg spielen gehört mit den martialischen Attributen vor allem männlicher Gewalt auch in der Jugendkultur und im Musikgeschäft zum Repertoire. Texte von Bushido oder dem so genannten Skandalrapper Sido, von Snoop Doggy Dog und anderen sind oft Gewalt verherrlichend, frauenfeindlich und pornografisch. Hier geht es natürlich auch um den Skandal. Jugendkultur hat immer versucht, Grenzen zu sprengen, Tabus zu brechen und zu provozieren. Das ist nicht neu. Schon in den Siebzigern setzten die Anhänger der RAF Dinge, die unvergleichbar waren, in Bezug zueinander, nämlich die Hungerstreikenden in Stammheim und die Juden im KZ vor 1945.
Zielgruppe der Werbung heute sind zunehmend auch sehr junge Konsumenten, die von schockierenden Darstellungen beeindruckt und angezogen werden. Der Kampf um Aufmerksamkeit fordert den Tabubruch. Was schockt, was in uns als Zuschauer, als potenziellen Käufern, Usern, Wählern auch nur irgendeine Emotion hervorruft, legitimiert sich allein durch diese Tatsache.
Weil wir durch die Flut der Informationen und Nachrichten abgestumpft sind, muss immer wieder nachgelegt werden.
Selbstdarstellung
Selbst Designer, die über die Methoden der Werber oft die Nase rümpfen, versuchen, sich mit drastischen Bildern in Szene zu setzen. Auf einem Plakat von Stefan Sagmeister sieht man den Designer selbst, nachdem er sich von seinem Mitarbeiter in stundenlanger Qual den Text für ein Ausstellungsplakat in den Körper hat ritzen lassen. Sein Statement: »Design hat mit Herzblut zu tun.« Drastische Texte, Blut und sogar – im wahrsten Sinne des Wortes – Scheiße werden als Mittel der Selbstdarstellung eingesetzt.
»Bilder aus aller Welt ersetzen das Weltbild«
In solchen Zusammenhängen, in denen es darum geht, immer noch heftiger, doller, gemeiner und blutiger zu werden, entstehen Phänomene wie »Handy Slapping« unter Jugendlichen, Sendungen wie »The Chair« oder die unzähligen Castingshows, in denen die Demütigung der Probanden Programm ist. Längst sind wir als User Teil der Produktion geworden. Wir sind gleichzeitig Produzenten und Konsumenten der Medienprodukte. Alle Abgründe der menschlichen Existenz kann man heute in Nullkommanichts auf dem Schirm haben, ohne dass sie zunächst einen sichtbaren Einfluss auf den Einzelnen haben. Haptische Erfahrungen sind durch das digitale Erleben weitgehend ausgeschaltet. So entsteht eine kühle Distanz, die Gewissen, Moral, Vernunft oft auf hinterste Ränge verweist. In Killerspielen, Horrorfilmen, in bestimmten Fernsehsparten und im Internet finden permanent Grenzüberschreitungen statt, und dazu versorgen uns Nachrichtenkanäle mit wichtigen und unwichtigen Meldungen aus aller Welt. Der Medientheoretiker Norbert Bolz hat dazu einmal gesagt: »Bilder aus aller Welt ersetzen das Weltbild.« Man kann nicht sagen, dass solche Grenzüberschreitungen neu sind, denn zum Beispiel im Märchen vom bösen Wolf, von der schwarzen Hexe und in religiösen Gleichnissen mit Hölle, Teufel und dem Fegefeuer hat es gruselige fiktive Welten schon immer gegeben. Mit den Ängsten der Menschen wurde stets gespielt – zur Verarbeitung, zur Unterhaltung, zum Geschäftemachen, zur Bevormundung und Demorali-sierung, zur Einschüchterung und Entmachtung. Auf der Grundlage von menschlicher Angst werden florierende Geschäfte betrieben. Die SecurityBranche boomt.
Da bei medialen Grenzüberschreitungen der direkte Blickkontakt, die Erfahrung von körperlicher Nähe fehlt, ist die Anmutung der digitalen Geschichten irreal. Es gibt keine Scham, keine soziale Kontrolle, keine sofort spürbaren Konsequenzen.
Sie alle kennen das Bild, wie das Flugzeug am 11. September in die Türme fliegt. Sie werden es vor Augen haben. Es sieht aus wie im Kino. Man sieht das Bild, aber es folgen keine unmittelbaren Schmerzen oder Erschütterungen, obwohl man das erwartet. Ich erinnere mich noch gut, wie ich von dem Anschlag erfuhr. Ich saß im Auto, als ich die Nachricht im Radio hörte. Man erwartet körperliche Reaktionen, Lärm, aber alles geschieht lautlos. Eigentlich hätte es knallen oder die Erde hätte beben müssen. Ich fand schrecklich, dass ich nichts gespürt habe. Alles geschieht lautlos. Wir sehen einen Film, aber es ist kein Film! Solche Erlebnisse sind Teil unserer Realität: Wir denken und fühlen, als seien die Bilder Teil eines Films in unserer Realität oder umgekehrt.
So bedeuten körperliche Gewalterfahrungen für viele auch so etwas wie ein »Sich-Spüren«, Leben – Gewalt, Leid und Schmerz als Liebesbeweis.
Bei dem oft hilflosen Versuch, die Welt nicht mehr nur als Film zu erleben, sich lebendig zu fühlen, auf irgendeine Weise zum Ursprünglichen zurückzukommen, zu Gefühlen, selbst wenn es nur Schmerzen sind, entsteht auch häusliche Gewalt. Die hier gezeigten Plakate spielen auf Situationen an, in denen Jugendliche Gewalt als einzige Form der körperlichen Nähe erfahren und ein großes Tabu brechen, nämlich die Gewalt von Kindern gegen ihre Eltern. Solche Grenzerfahrungen sollen Abstumpfung und Gefühllosigkeit auf brechen. Ein Film wie »Fightclub« von David Fincher mit Brad Pitt in der Hauptrolle zeigt diese Sehnsucht nach Selbstwahrnehmung.
Auch die Werbung nimmt diese Sehnsucht auf. Um der eigenen Bedeutung Nachdruck zu verleihen, werden die Hüllen, die den Körper vor Verletzungen schützen und ihn auch gesellschaftlich einordnen sollen, fallen gelassen.
Der Körper im Fokus
Während der Studentenprotestaktionen vor einigen Jahren in Berlin lehnten sich die Studenten gegen Studiengebühren auf und appellierten mit ihrer Nacktheit an die Elterngeneration als Versorger. Sie signalisierten Verletzlichkeit. Die Botschaft war: »Ihr seid zuständig. Wir sind von euch abhängig. Macht was!« Neben der Verletzlichkeit zeigte diese Art von Protest auch eine ursprüngliche, natürliche und anarchische Kraft – und Schwäche zugleich.
Der Körper wird zum Medium, zum Interface, zur Plattform. Der Schweizer Künstler Daniele Buetti beschäftigt sich mit den Zeichen und Codes unserer Waren- und Konsumwelt. Er beschreibt Fotografien von hinten mit Kugelschreiber, so dass der Eindruck entsteht, diese Zeichen seien in die Haut geritzt oder tätowiert. Mensch und Markt werden eins.
Die bekannten Optimierungsanstrengungen mit dem Gedanken, den Körper und seine Schwachheiten zu überlisten, sind ewig scheiternde Versuche. Eine Studentenarbeit von Julia Ochsenhirt von der Uni Duisburg Essen stellt zum Thema »Wie passe ich mir selber?« Unterwäsche aus Latex her mit aufgestickten Texten von Elfriede Jelinek. Es geht dabei um diesen aussichtslosen Versuch, den Körper und seine Unzulänglichkeiten zu überwinden, beziehungsweise den eigenen Körper als naturgegeben zu akzeptieren.
Werbung am Puls der Zeit
Schon seit langem sind Menschen Teil des Produktes, sowohl als Produzent als auch als Konsument, und damit ein Teil der Handelsware. Mit unter der Haut implantierten Chips kann man bezahlen, in Clubs und Diskos als Mitglied ein- und ausgehen, weil man dazugehört. Die Haut wird zu Markte getragen. »Wearable Computers« sind seit langem ein Thema in der Forschung; die Schnittstelle soll der Körper selbst sein.
Die Auf hebung von Raum- und Zeitgrenzen durch Berührung, das Auflösen der Grenze des Individuums erfährt der Mensch in der Liebe und beim Sex. Durch wachsendes Interesse am Körper, an der letzten Bastion der Verletzlichkeit, rückt die menschliche Oberfläche für Werbung in den Fokus von Kreativen. Nähe und Hinwendung zu einer Person werden in den Medien durch Sexualisierung und Pornoisierung der Bilder vorgespielt. Je distanzierter und kühler die säkulare Welt ihren Bewohnern erscheint, desto mehr muss es zur Sache gehen. Nähe wird durch Sex ersetzt. Werbung mixt Handyfilme, Krimis, Gewalt verherrlichende Clips und männliche Eroberungsphantasien zusammen zu Kampagnen, die aussehen wie Zeitungsmeldungen, kultige Spielfilme oder Pornohefte. Beispiele hierfür sind die Anzeigenserien von Sisley, Puma und Dolce & Gabbana aus den letzten Jahren. Sie zeigen (fast) alles.
Tabubrüche in Kunst, Literatur und Religion
In der Kunst finden seit den 60er Jahren Tabubrüche und Exzesse, wie zum Beispiel künstlerische Protestaktionen, zunehmend Akzeptanz. Grenzen zwischen Körper und Kleidung werden aufgehoben. Die Installationskünstlerin Jenny Holzer erregte 1983 zunächst mit ihren Truismus in New York Aufsehen durch banale Botschaften im öffentlichen Raum zu gesellschaftlich relevanten Themen, wie zum Beispiel »Abuse of power comes as no surprise«. Später dann provozierte sie die Kunstwelt mit der Arbeit »Lustmord«, in der sie in ihren auf Haut geschriebenen Texten mal die Perspektive des Vergewaltigers, mal die des Zuschauers und mal die des Opfers einnahm. Bei Herman Nitsch, Aktionskünstler des Wiener Aktionismus, ist die Tabuverletzung nicht nur Triebentladung und Provokation in einer konservativen Umgebung. Nitsch will mit seinen orgiastischen Aktionen mit vielen Beteiligten und viel Tierblut vielmehr auf eine Bewusstseinsänderung der Bevölkerung hinwirken. Er meint, für existenzielle Bedrohungen gäbe es in unserer Gesellschaft keine Rituale zur Verarbeitung. Der Künstler Günther Brus ging in seinen Arbeiten so weit, dass aus fiktiven reale Selbstverletzungen und -verstümmelungen wurden. Mit Extremen arbeiten auch die Künstlerinnen Valie Export und die Body-Artistin Marina Abramovicz, die beispielsweise durch Nahrungsentzug Grenzerfahrungen sucht, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Mit ihrem Partner Ulay inszenierte sie die Performance »Light and Dark«, in der sie und ihr Partner sich abwechselnd ins Gesicht schlugen.
Auch das Alte Testament steckt voller Tabubrüche und Grenzüberschreitungen. Zu nennen wäre hier die Geschichte von Herrn Lot, der seinen Töchtern beiwohnte, und diese gebaren ihm anschließend Söhne – eine zeitlose Geschichte, die immer wieder in der Literatur zitiert wird, unter anderem zum Beispiel in dem Roman »Tannöd« von Andrea Maria Schenkel.
Die Fotografin Taryn Simon aus New York spürt Abstrusitäten und geheime Orte auf und versucht, dafür Fotografiergenehmigungen zu bekommen. Ihre Fotos aus einem privaten Lager, in dem man gegen viel Geld ausprobieren kann, wie es sich anfühlt, wenn man zum Beispiel in Guantanamo einsitzt, dokumentieren unter anderem, was ein Leben in Gefangenschaft konkret bedeutet. Sie hat in einer Klinik fotografiert, in der arabische Frauen ihre Jungfräulichkeit wieder herstellen ließen, und auf Forschungsgeländen, wo der Verwesungsgrad von Toten an der Luft beobachtet wird.
Sprachgrenzen Auch in der Sprache sind uns bestimmte Grenzen gesetzt. Hiermit ist nicht die Vermengung verschiedener Sprachen gemeint (wie beispielsweise »Denglisch«). Vielmehr geht es darum, was man (laut) sagen darf, was politisch korrekt ist und was nicht. Tabus sind zeitabhängig. In den 70er Jahren war die Gesellschaft gerade in Bezug auf den RAF-Terror sehr verletzlich. Eine Gruppe um den Aktionskünstler Manfred Spieß hielt damals die Stadt Düsseldorf mit provokativen Großflächenplakaten in Atem.
Sie erinnern sich sicher an den Vorwurf gegenüber Kardinal Meisner, ein notorisch geistiger Brandstifter zu sein. Dies geschah anlässlich seiner Äußerung, Kultur, abgekoppelt vom Kultus, von der Gottesverehrung also, sei entartet. Niemand nahm am Inhalt dieser Äußerung Anstoß. Das Wort »entartet« stand immer im Mittelpunkt der Presseberichte. Politiker überschreiten mit ihren Äußerungen und Unterstellungen »Trennlinien« und Grenzen und werfen sich diese Übertretungen gegenseitig vor. Oft ist die Diskussion selbst das Ereignis, nicht die inhaltliche Dimension. Neulich erzählte mir eine Mitarbeiterin, die in einer Wohngemeinschaft wohnt, von der Idee ihrer Mitbewohner, eine Naziparty zu veranstalten. Die Nazis hätten so tolle Uniformen gehabt. Für das Fest sollten sich alle als Nazis verkleiden. Zwei wg-Mitglieder hatten mit der Aussage reagiert, wenn das passieren würde, zögen sie sofort aus. Die folgende Diskussion entspannte sich darüber, ob es legitim sei, als Reaktion auf den Partyvorschlag zu sagen: »Ich ziehe aus.« Es ging nicht um die Idee der Naziparty selber, sondern nur um die Reaktion der Kritiker. Dieses Beispiel zeigt sehr gut, wie öffentliche Diskussionen bisweilen ablaufen. Solche Auseinandersetzungen kennen wir aus den Talkshows und Politikerrunden. Die Protagonisten hauen sich gegenseitig ihre Vokabeln um die Ohren, und die inhaltliche Diskussion wird dabei verdrängt.
Dieter Wischmaier macht sich in Wischmaiers Schwarzbuch lustig über diese scheinbar vielfältigen Tabubrüche, die in den Medien diskutiert werden, so dass man oft gar nicht mehr weiß, gegen welches Tabu hier eigentlich verstoßen wurde. Er bezeichnet Nazis als Menschen zweiter Klasse, die ss als Schwulentruppe und Hitler als hervorragend integrierten Ausländer und verunsichert so seine Zuhörer mit einem Seitenhieb auf die ewig gestrigen, oft vom Staat alimentierten Berufstabubrecher. Die Musik-gruppe »Die Libertines« nannten einen Popsong »Arbeit macht frei«, um gegen englische Spießer zu protestieren, die sich zwar brüsken, die Nazis besiegt zu haben, aber im eigenen Lande Ausländer diskriminieren.
Wahrnehmungsgrenzen
Grenzen sind generell relativ. Oft herrscht Unsicherheit zwischen Tabu und Trend. Was gestern noch Tabubruch war, also eine Grenze überschritten hat, ist heute schon Trend. Für fünf bis zehn Prozent unserer Mitbürger ist Grenzüberschreitung ganz normal, nämlich für Synästhetiker. Sie sehen Töne und konnotieren Zahlen mit Farben. Noch Anfang des 20 Jahrhunderts waren solche Menschen eine Sensation. Synästhesie war als Wahrnehmungsstörung negativ besetzt. Heute wird dies nur als eine besondere Art der Wahrnehmung begriffen. Die Verknüpfung von Farbe, Form, Skulptur und Ton wird mit den »neuen« Medien alltäglicher und somit nicht mehr als grenzwertig, sondern als spannende Bereicherung empfunden.
Die letzte Grenze, der Tod, wird oft nicht als Ende bezeichnet, sondern als Übergang. Beerdigungen sind nicht nur soziale Pflicht, sondern auch ein Zeichen von Leben und eine Feier zur Selbstversicherung, noch auf der richtigen Seite zu sein. Immer geht es darum, mit dieser Grenze zu spielen, sie zu erforschen, einen Blick nach drüben zu erhaschen oder sie hinauszuschieben. Die Mexikanerin Theresa Margolles führt Seminare und Gespräche im Leichenschauhaus durch, um so das Aufrechterhalten der Beziehung zu den Toten zu symbolisieren und mit der eigenen Sterblichkeit vertraut zu werden. Ana Mendieta verkuppelt sich mit dem Tod, um ihn zu überwinden. Tod und Lifestyle sind auch Themen der Ausstellung »Six feet under«, die im Herbst 2007 in Dresden im Hygienemuseum zu sehen war. Hier tragen Tote Dolce & Gabbana und Watanabe.
Fazit
Grenzen sind notwendig für unser Zusammenleben, aber Grenzüberschreitungen ebenso. Ohne diese Brüche gäbe es keinen Fortschritt und keine Entwicklung. Es gibt immer die, die das Herdfeuer bewachen, und auch die, die umherziehen, die Wanderer, die Neugierigen, die Wagemutigen und die Risikofreudigen. Welche Grenzüberschreitungen wir akzeptieren wollen und welche nicht, müssen wir wohl immer wieder neu ausloten. Grenzen zu überschreiten hilft uns, zu sehen und zu verstehen. Es bedeutet aber auch, das Risiko, das für einen selbst mit der Erforschung einer fremden Welt verbunden ist, einzugehen, einen anderen Horizont wahrzunehmen und von neuen Ansichten überrascht zu werden. Grenzen überschreiten heißt, den eigenen Horizont erweitern.
Kreativität
Seit Politiker, der Papst und viele andere Mikrofonträger sich für alles nur Erdenkliche entschuldigen, hat man uns die Entschuldigung als reelles Angebot geraubt. Mit der Kreativität verhält es sich ähnlich, ein Wort, das nach Frauenzeitschriften, Bastelkursen und Heimwerkermärkten klingt und damit in Zusammenhang von Studium und Gestaltung unbrauchbar geworden ist. weiter
Seit Politiker, der Papst und viele andere Mikrofonträger sich für alles nur Erdenkliche entschuldigen, hat man uns die Entschuldigung als reelles Angebot geraubt. Mit der Kreativität verhält es sich ähnlich, ein Wort, das nach Frauenzeitschriften, Bastelkursen und Heimwerkermärkten klingt und damit in Zusammenhang von Studium und Gestaltung unbrauchbar geworden ist.
Studieren ist an jeder Hochschule anders. So wie das Arbeiten in der Praxis sehr unterschiedlich sein kann. Das Wichtigste – neben den gestalterischen Qualifikationen – scheint mir die Fähigkeit zu sein, sich auf Umstände einrichten zu können und zu wollen, die man jetzt noch gar nicht kennt. Von Kreativität traut sich mensch in diesem Zusammenhang wie gesagt kaum noch zu reden.
Studierende zeichnen heute Aktien und werden von ihren Handys aus den Arbeitsgruppen gerufen. Der Terminplan erlaubt ihnen oft keine regelmäßige Teilnahme an Studienprojekten. Vor lauter Stress und Bewegung bewegt sich nichts. Die größten Kreativitätsverhinderer sind zuviel Bewegung, zuviel Technik und Angst. Wer immer alles mitnehmen will, nimmt am Ende gar nichts mit. Die Aufgabe von Lehrern ist es, den Studierenden den Rahmen zu geben, in dem sie sich entwickeln können. Da muss der Job, der Auslandsaufenthalt und im Zweifelsfall die Familienplanung möglich sein. Die Zeit, eine Gestalterpersönlichkeit auszubilden, deren Kompetenz über den Tageswert und einfache Dekoration hinausgeht, muss sein. Zeit steht nicht zur Disposition. Studieren muss m. E. heute mehr denn je im Wortsinne verstanden werden. Das Geschrei nach der Praxis ist letztlich rückschauend, die Praxis von heute ist die Vergangenheit von morgen.
Alle müssen aushalten, dass jeder nicht alles kann, dass wir lernen müssen, die Dinge beim Namen zu nennen, sie im wahrsten Sinne des Wortes in die Hand zu nehmen. Gestaltung ist immer der letzte Schritt. Manchmal fällt sie sogar weg. Auch dazu braucht man Mut. Die wichtigste Frage ist m. E. immer: Warum? Wozu? Warum machen wir das? Wenn es darauf keine Antwort gibt, ist Design in der Regel überflüssig. Ähnlich wie in der Kunst bringt es oft am meisten, die Dinge aus dem Zusammenhang zu nehmen, sie für sich zu betrachten.
Natürlich brauchen wir in den Studios die perfekten Designhandwerker, zu einer Designausbildung gehört jedoch mehr. Der Grundstock dafür muss in der Ausbildung gelegt werden. Aber die Agenturen werden nicht drumherumkommen, die jungen DesignerInnen weiter auszubilden in ihrer speziellen Situation. Die Praxis lernt und lehrt sich in der Praxis am besten.
Inspiration
Das große Ringen um Eingebung, die Beschreibung der Leere im Kopf, die Verzweiflung des Kreativen ist aus Kunst, Literatur und Theater bekannt. Auch Designer stehen regelmäßig unter dem (bisweilen ja auch angenehmen) Druck, »geniale« Einfälle zu produzieren. weiter
Das große Ringen um Eingebung, die Beschreibung der Leere im Kopf, die Verzweiflung des Kreativen ist aus Kunst, Literatur und Theater bekannt. Auch Designer stehen regelmäßig unter dem (bisweilen ja auch angenehmen) Druck, »geniale« Einfälle zu produzieren.
Unlängst gab es zu diesem Thema die Aussendung eines Bremer Studenten, Martin Zech, der seine Abschlußarbeit an der Hochschule für Künste, ein Buch, dem Thema »Anfangen« gewidmet hat. Einige bekannte Zeitgenossen haben auf seine Anfrage »Wie fangen Sie an, was brauchen Sie, damit es losgeht im Kopf?« mit persönlichen Stellungnahmen geantwortet: Gerd Dumbar, Michael Erlhoff, Jochen Gerz, Massimo Vignelli, Wolfgang Weingart und viele andere.
Sicherlich gibt es ein paar Rezepte. Aber darüber hinaus hat wohl jeder eine eigene Strategie, wie die Ideen kommen. Die einen können nur beim Reden denken und haben so im Dialog mit sich selbst und anderen die beste Basis für kreative Gedanken, die anderen brauchen unbedingt eine »fremde« Umgebung, will sagen, ein Café, einen Speisewagen im Zug mit vorbeihuschenden Landschaften, den schummrigen Nebenraum der Ballettschule, ein Wartezimmer beim Arzt. Manche brauchen nix als die absolute Ruhe, stundenlang kein Telefon und kein Gesicht, sind weder ansprech- noch genießbar in dieser Zeit der Klausur. Wieder andere blättern die Bücher in den Regalen nach Anregungen durch oder nach Huckepack-Ideen (»das ist doch eine gute Idee, das könnten wir ja hier auch so machen, nur ein bißchen anders vielleicht«).
Mit offenen Augen durch die Gegend laufen und die Fähigkeit zum freien Assoziieren sind sicher gute Grundvoraussetzungen für Geistesblitze. Die Gabe, Verbindungen herzustellen zwischen den Dingen, den Ereignissen, scheint mir wichtig, um über bloße Schönmacherei und Dekoration hinauszukommen! Beispiele sind unter anderem die intelligenten PlakatIdeen von Uwe Loesch oder Alexander Jordan.
Wenn’s denn aber gar nicht so einfach kommt, das große Leuchten? Ein guter Weg ist oft, ein paar Stichworte zu notieren: Was erwarte ich von meinem Projekt, was muss es können? Ich versuche, mir einen KriterienKatalog zu erstellen, an dem ich meinen Entwurf auch später überprüfen kann! Soll es groß sein oder klein, stark oder schwach, welche Farbe hat es oder ist es schwarz-weiß; wenn der Gegenstand meiner Suche eine Musik wäre, was für eine wäre er, wenn er ein Gebäude wäre, ein Beruf, ein Kleidungsstück? Assoziationen über Farbe oder Klänge oder Architektur helfen oft. Es gibt verschiedene Wege, sich einer Sache zu nähern: charakteristische Merkmale zu finden, das Gegenteil, Geschichte und Umfeld betrachten, die Sprache dazu analysieren, Begriffe und Bilder sammeln, sie wenden und drehen, auseinandernehmen, auf den Kopf stellen, neu zusammensetzen und so fort.
Die Beschäftigung mit einer Sache fördert die selektive Wahrnehmung. Z.B. bei einer Recherche zum Thema Herz sehe ich wochenlang die Welt durch dieses kleine Herz-Fenster. Der Alltag ist für eine Weile gefärbt, geformt und vorbestimmt im Sinne des Projekts.
Für den Anfang dieses Textes habe ich die Ruhe zwischendurch genutzt, währendmeine Studenten eine Klausur schrieben; jetzt geht’s weiter auf der Bahnfahrtzu einer Jurysitzung nach Turin, zwischen Gedanken für ein neues Buch und derKorrektur eines anderen Textes ... Die verschneite Landschaft, das Rattern desZuges erzeugen eine angenehme Leere im Kopf, in der sich schnell Gedanken undIdeen sammeln zu einem wilden Knäuel, das nur noch entwirrt werden muss ...Die Unterhaltung der Nachbarn ergibt ein angenehmes Hintergrundgemurmel,und das Klingeln der Kasse und das Zischen der Kaffeemaschine stören überhaupt nicht.
Draußen steht ein polnischer Zug auf dem Nachbargleis, grau, mit Schneebedeckt ... ich komme vom Thema ab, das ist eine andere Geschichte ... Alsoabbrechen. Den Rest im Büro schreiben, morgens ganz früh, wenn noch keinerda ist. Ganz konzentriert, dann einen Kaffee. Fertig.
Mappe-Machen
In den Grundlagen, also während der ersten vier Semester, probieren viele junge Menschen vor sich hin und müssen dabei an vielen Universitäten richtig viel tun, denn die Anforderungen sind hoch. weiter
In den Grundlagen, also während der ersten vier Semester, probieren viele junge Menschen vor sich hin und müssen dabei an vielen Universitäten richtig viel tun, denn die Anforderungen sind hoch. Manche haben lange keine Vorstellung, was Studieren eigentlich bedeutet. Es ist schön zu beobachten, wie dann langsam aus hoffnungsvollen Studienbewerbern interessante Typen werden.
Was aber heißt das alles für die Bewerbung? Auch beim Mappe-Machen weiß zunächst einmal kaum jemand, worauf es eigentlich ankommt. Das macht auch nichts. Es gibt Vorgaben, an die mensch sich halten kann und sollte. Das ist die Basis. Aber dann: Lehrende fördern in der Regel gern Studierende, mit denen das Arbeiten Spaß macht, die Ideen haben, die sich nicht von Aufwand, Schwierigkeiten und Aufgabenstellungen paralysieren lassen, sondern einfach anfangen. Die mit denken, anders denken, die Dinge auf den Kopf stellen und dann noch einmal neu denken; Studierende, die dranbleiben, wenn es schwierig wird und aus der Bewältigung dieser Probleme den inneren Motor speisen und damit ihre eigene Entwicklung vorantreiben.
Ich freue mich in der Mappe also über eigene Sichtweisen, Tagebücher, illustrierte Texte und Briefe, Botschaften von überall her, gezeichnete oder kopierte Storyboards, gesammelte Fundstücke mit Kommentaren, Reiseberichte, witzige Selbstportraits und gebastelte Postkarten-Serien usw.. Traut Euch und zeigt, was Ihr in der Schublade habt – neben den verlangten Aktzeichnungen und Schwarzweißfotos und der Arbeit zum Thema Kommunikation oder »Mein ständiger Begleiter, der Hausschlüssel«.
Wichtig sind Individuen, Persönlichkeiten mit eigenen Vorstellungen, die nicht mit einem Kopf voller Klischees und Abziehbilder ankommen, die zig andere genauso mitbringen. Deshalb gibt es neben der Mappe und der Prüfung zumeist auch das kurze Aufnahmegespräch: Hat da einer eine Vorstellung von sich und der Welt um ihn herum, von dem, was er sieht und tut? Und am allerwenigsten interessieren die bereits realisierten Auftragsarbeiten, die Flyer, Anzeigen, Websites, u.s.w.. Die bereits routinierten Anzeigen-Klempner sind für die meisten Lehrenden nicht das Objekt der Begierde, sondern eher das rote Tuch.
Die Lehrenden müssen anhand der Mappe und später dann der Prüfung herausfinden, ob das, was ein Bewerber mitbringt, ausreicht für die Arbeit am Fundament eines Designerlebens. Dieses Herausfinden, dieses »Den-Einen-Weg-Suchen« setzt sich dann auf beiden Seiten intensiv im Grundstudium fort. Für die Lehrenden bedeutet das auch zu (be-)urteilen, wenn es nicht so klappt: ist einer nur faul, verweigert sie sich aus Liebeskummer oder muss zuviel nebenbei arbeiten, hat er oder sie in diesem Bereich einfach keine Chance und sollte nach dem Vordiplom wechseln?
All dies stellt sich im Lauf der ersten Jahre des Studiums heraus, bis dahin laufen wir uns sozusagen gemeinsam warm. Die Mappe ist für dieses Training sowohl der Startschuss als auch das Rüstzeug: man muss es ihr ansehen, dass einer unbedingt zum Training will. Mit Leib und Seele.
Unterschiede
Hochschule oder Fachhochschule, gibt es überhaupt noch Unterschiede? Die Umstellung auf Bachelor und Master läuft an vielen Hochschulen auf vollen Touren, manche bieten die neuen Studiengänge bereits an, manche haben bis auf den letzten Drücker gewartet, aber bis 2010 müssen alle Schulen umgestellt haben. weiterHochschule oder Fachhochschule, gibt es überhaupt noch Unterschiede?
Die Umstellung auf Bachelor und Master läuft an vielen Hochschulen auf vollen Touren, manche bieten die neuen Studiengänge bereits an, manche haben bis auf den letzten Drücker gewartet, aber bis 2010 müssen alle Schulen umgestellt haben. An diese Veränderung wurden vielerorts große Hoffnungen geknüpft, vor allem was die Kompatibilität des Angebots der Hochschulen untereinander angeht. Modularisierung heisst das Zauberwort.
Konkret bedeutet dies für die kreativen Studiengänge, ihr Angebot in vergleichbare Häppchen aufzuteilen, die dann einem Studienbewerber den Wechsel von einer Hochschule zur anderen, auch im Ausland, einfacher machen soll. Gleichzeitig war das Ziel, die Studiengänge zu straffen und die Studierenden dazu zu bringen, kürzer zu studieren.
Da die Bachelor-Abschlüsse nicht in Bezug auf Fachhochschule, Kunsthochschule und Universitäten definiert werden, kann man sich fragen, wozu die Unterscheidungen der Schulformen noch gut sind. Design-Fachbereiche an Universitäten sowie Design- und Kunsthochschulen befürchten, ihr Profil gegenüber den mehr praxisorientierteren Fachhochschulen zu verlieren, wenn alle die gleichen Angebote in der gleichen Zeit machen müssen (um wirklich vergleichbar zu sein). Schon der Versuch, Lernen und Forschen so zu organisieren, ist absurd. Ein Studium kann niemals durchgeplant und kompatibel sein, wenn es Studium und nicht Schule sein soll, schon gar nicht in kreativen Fachbereichen.
Die Kunsthochschulen haben sich entweder komplett der Modularisierung verweigert, was ihnen zugestanden wurde, weil künstlerische Arbeit zu modularisieren sich traut, oder wählen den achtsemestrigen Bachelor (Design-Studiengänge an Kunsthochschulen und Universitäten), um mehr Zeit für fundiertes Studium zu haben. Umfangreiche Angebote in den Designwissenschaften und in den Grundlagen, Forschung, Experiment und Umwege sowie ausgiebige Auslandsaufenthalte sind schwer in sechs Semestern unterzubringen.
Die Studienpläne an den Hochschulen sind also nach wie vor nicht wirklich vergleichbar, weil oft schon die Studien-Schwerpunkte unterschiedlich sind. Hier wird mehr Wert auf Typografie oder Illustration gelegt, dort auf interaktive Medien und Fotografie oder interdisziplinäres Arbeiten. Auch die Module und Modulgrößen sind von Ausbildungsstätte zu Ausbildungsstätte verschieden, manche bieten Schwerpunkt-Studium zu komplexen Themen an, mit freier Projektwahl pro Semester, manche Studiengänge haben noch ein Klassensystem in die neue Zeit gerettet und einige haben ihr Angebot durchweg sehr stringent in kleinere Einheiten eingeteilt. Ein fundiertes Grundlagen-Studium ist an einigen Hochschulen eine wichtige Basis und nimmt nach wie vor die ersten Semester in Anspruch, manche legen bereits im ersten Semester mit Projektarbeit los. Und all diese verschiedenen Arten von Kursen, Seminaren und Veranstaltungen werden durch unterschiedlich gewichtet und mit einer differenzierten Anzahl von ECTS Punkten bewertet …
Letztlich hat sich nicht viel geändert, nur aufwändiger ist alles geworden. Viele Kollegen haben in den letzten Jahren sicher ähnlich viel Zeit mit Verwaltungsarbeit für diese Reform verbracht wie mit Lehre und Forschung. Die Unterschiede im Angebot sind also geblieben, und der Wechsel von einer Schule zu anderen wird in den Designstudiengängen nach wie vor durch Einschätzung mittels Portfolio/Mappe und Gespräch bewerkstelligt. Da man anhand der ects-Punkte, die den Arbeitsaufwand widerspiegeln sollen, die Schwerpunktsetzungen in einem Studium klarer als bisher erkennt, wird die Einstufung eines Studenten und die Anerkennung von erbrachten Leistungen künftig etwas erleichtern, doch nach wie vor wird eine individuelle Sichtung und Auswahl auch bei Hochschulwechslern das Privileg der Kunst- bzw. Designstudiengänge bleiben.
Und die unterschiedlichen Profile der Hochschulen sind wichtig wie eh und je. Das ist vielleicht das einzig gute an der Reform; dass die Designstudiengänge über ihre Ausrichtung und ihr Angebot nachdenken müssen. Was können wir mit den gegebenen Ressourcen anbieten? Was unterscheidet uns von anderen Schulen im Land und auf welches lang gehegte Orchideenfächlein können wir stolz sein – oder auch verzichten zugunsten eines neuen Angebots ... entrümpeln, sich von Altlasten befreien und mit weniger Ballast einen Neustart angehen. Das Besondere der einzelnen Hochschulen tritt besser zu Tage ...
Durch Flyer, Plakate und Internetauftritte, durch Wettbewerbsbeteiligungen und Veröffentlichungen werben die einzelnen Einrichtungen mit ihren Angeboten um Studierende. Hochschule mit dem acht-semestrigen Bachelor bieten im Gegensatz zu den früheren Folkshochschulen z.B. oft deutlich mehr Theoriemodule an und können sich mehr Zeit für die klassischen Grundlagen wie Zeichnen, Farblehre, plastisches Gestalten, Schrift und Werkstattarbeit nehmen.
In den höheren Semestern ist Raum für komplexe Projekte, die nicht unbedingt praxisorientiert sein müssen, für Exkursionen und Forschung. An der Burg Giebichenstein zum Beispiel beschäftigen sich Studierende im Kommunikationsdesign nach dem Grundstudium jeweils ein ganzes Semester mit Themen wie Illegalität, Veränderung, Identität, das Fremde oder Inspiration. Hier werden künstlerische Aspekte ebenso mit einbezogen wie eigene Sichtweisen und Recherchen. Am Ende des Semesters steht immer eine komplexe Designarbeit. Dafür sind Fachhochschulen oft schneller und eher praxisorientiert. Und es gibt nach wie vor in allen Systemen gute und weniger gute …
Zwischenräume
Kleine, große, wunderbare Geschenke: Zwischenräume. Beim Nachdenken über die Zwischenräume, angeregt durch das Thema des Forum Typografie »Spatium« (und über einen kurzen Workshop an unserer Hochschule dazu) haben die Assoziationen zu diesem vielfältigen Thema meine Gedanken fortgetragen. weiter
Kleine, große, wunderbare Geschenke: Zwischenräume.
Beim Nachdenken über die Zwischenräume, angeregt durch das Thema des Forum Typografie »Spatium« (und über einen kurzen Workshop an unserer Hochschule dazu) haben die Assoziationen zu diesem vielfältigen Thema meine Gedanken fortgetragen.
In Dessau, zu Beginn meiner Lehrtätigkeit dort, wurde der DesignFachbereich an der Hochschule Anhalt gerade erst aufgebaut. Man konnte bereits Design studieren, aber es gab kaum ein inhaltliches Gerüst. Eine wunderbare Situation, ein Stückchen Raum zum wirklich kreativen Arbeiten, für Experimente und Versuche.
Der Bahnhof, die erste Station bei der Ankunft in Dessau begrüßte die Reisenden, noch ganz im braun-schwarzen, abgewrackten DDR-Look, der Geruch und die z. T. rechtsradikalen Graffiti an den Wänden ließen die Passantin erschauern ... aber die bald darauf an einigen Stellen aufgebrachten glatten Fliesen (RAL XY, lichtgrau) auch. Jetzt war die Zwischenzeit, jetzt bekam das Alte, zunächst Beängstigende, etwas menschliches, unvollkommenes, weil das Neue nicht wirklich neu war, sondern nur das Alte unter einer gelackten Fassade begrub, also versteckt, aber nicht beendet hatte. Nur jetzt und hier war dies beides zu sehen, war ein Platz, ein Ort und eine Zeit, wo überhaupt Erkenntnis und Vergleich möglich war, und der Nährboden für etwas wirklich anderes ... nur das Dazwischen bietet wirklich die Chance zur Veränderung, einen Moment zum Luftholen und Neudenken. So ist die Gegenwart, der kurze Moment zwischen den Zeiten, der die eigentliche Zeit bedeutet. Nicht jung sein, nicht alt sein, das Erwachsensein als Spatium, als ein Stück Zwischenraum zwischen bunter Aktion und Rausch und monochromer Ruhe ... War nicht auch die Dämmerung oft so ein wunderbarer Moment zwischen Tag und Nacht, oder Nacht und Tag: morgens, wenn alles noch sauber, neu und klar ist, die Chance für einen schönen Tag heranwächst, oder abends, wenn die Stille sich über die Hektik legt und vorbereitet auf eine erholsame (oder spannende) Nacht?
Meine Gedanken kreisen um die Chancen, die in solchen Umbruchsituationen liegen ... Überall um uns herum die vertanen Bemühungen, die nichts anderes zum Ziel haben, als die Zwischenzeit schnell zu beenden und den leeren Raum rasch zu füllen. Zwischenräume sind die Freiheit zwischen den Gitterstäben, die Fenster, das Licht zwischen Drinnen und Draußen. In Berlin haben sie das Hausbesetzen, das Tacheles, das Small Business auf der Oranienburger Straße, die Trödelmärkte, die Clubs und vieles mehr hervorgebracht, und die krampf haften Bemühungen, Übergangssituationen zügig zu beenden und nicht die Chance des Wechsels zu nutzen, bescherten uns manche unerträgliche Situation. Beispiele aus Politik und Architektur sind bekannt.
Niemand hält die Lücke aus. Ausprobieren, neu machen, wieder probieren
ist ein unbeliebter Weg. (Kinder erkunden so ihre Welt, und das Tempo,
in dem sie etwas begreifen und behalten, ist atemberaubend. Es scheint also
nicht die schlechteste Methode zu sein!) Der Wechsel wird als unsolide und unstabil angesehen und als Risiko, nicht als Chance (siehe auch »RotGrün«).
Dabei entstehen die besten Gedanken in den Übergangssituationen,
im Umbruch zwischen zwei Welten, zwei Terminen, auf dem Weg von einem
Ort zum andern, in den Wartezeiten, in der Lücke zwischen den Blöcken,
den ungeplanten Einheiten dazwischen. In den Nischen tobt bekanntlich
das Leben, zwischen zwei bequemen Stühlen macht das Auf-der-Erde-sitzen
manchmal ganz wach: Freier Raum für freie Gedanken.